EM-Tagebuch Lisa Sickmann

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Mein letztes Turnier-Tagebuch ist schon eine Weile her und so dachte ich mir, die
Jugendeuropameisterschaft in Antalya ist eine gute Möglichkeit, der Welt ein wenig von Lisas
Schachabenteuern zu berichten. Die Meisterschaft fand vom 6. - 14.11. statt und es wurden 9
Runden gespielt. Den Grundstein für dieses Turnier hat sie selbst gelegt, indem sie im Juni
Deutsche Meisterin der Altersklasse U12w geworden ist und sich damit für die EM qualifiziert hat.
Um so ein Turnier finanziell, organisatorisch und schachlich bewerkstelligen zu können, sind viele
Faktoren wichtig und es gab viele Menschen, die uns (auch moralisch) geholfen haben. Egal
welcher Art - meine Frau und ich sind sehr dankbar für jede Unterstützung gewesen. Hier eine
kleine Aufzählung von Menschen, Vereinen oder Institutionen, die uns geholfen haben, Lisas Traum
von der EM zu verwirklichen. Die Reihenfolge der Aufzählung ist völlig wertfrei und falls ich
jemanden vergessen haben sollte, war das keine Absicht:
Sergey Ovsejewitsch, Wolfgang Pajeken, Wolfgang Krüger, Marcel Klemmer, Michael Weiss,
Thomas Thannheiser, Michael Kopylov, Bernd Vökler, Thilo Koop, Nicole Hellenbroich, Lübecker
SV, Förderverein des Lübecker SV, Melanie und Frank Neumann, Hanna Tran, Heiko Spaan,
Schachjugend SH, Schachverband SH, Ullrich Krause, Natasa Strizak, Anna-Blume Giede, Ede
Stomprowski, Christoph Stäblein, STG Bad Segeberg, Schachfreunde Bad Segeberg und viele
mehr.

4.11.
Um es kurz zu machen: Morgens 9 Grad in Bad Segeberg, abends 22 Grad in Antalya. Herrliches,
angenehmes Sommerwetter erwartete uns hier und wir sind extra einen Tag früher angereist, um die
Zeitverschiebung (2 Stunden) und einen anstrengenden Anreisetag gut zu verarbeiten, damit Lisa
topfit am Brett sitzen kann. Wie sich herausstellt, war das eine gute Entscheidung, da sie mit einer
leichten Erkältung angereist ist und sich noch ein wenig auskurieren konnte. Am Flughafen in
Antalya wartete dann leider kein versprochener kostenloser EM-Shuttle-Service auf uns und so
mussten wir ein Taxi nehmen, was unerwartete 40 € gekostet hat. Die Taxifahrer hier sagen einem
alle unterschiedliche Preise. Von 30 - 50 € für die halbstündige Fahrt zum Hotel war alles dabei. Wir
haben uns dann für einen deutschsprechenden, halbwegs seriös aussehenden Taxifahrer entschieden,
der uns gut unterhalten hat auf der Fahrt. Corona ist hier übrigens kein Thema. Niemand hat
angeblich Corona und niemand trägt eine Maske und alle Deutschen haben zu viel Angst vor gar
nichts. Auch im Hotel waren wir die einzigen mit Maske und manchmal hatte ich den Eindruck, wir
wurden deswegen sogar schief angeschaut. Na ja, egal, wir ziehen unser Ding durch. Noch ein
kleiner Spaziergang durch die fantastische Hotelanlage und dann ab in die Koje.
5.11.
Alter Schwede! Ich hätte nicht gedacht, dass zwei Stunden Zeitverschiebung in uns eine so große
Müdigkeit auslösen würden. Aber ganz ehrlich: Wir sind den ganzen Tag wie Falschgeld mit
schweren Beinen durch die Gegend gewandert und lagen ansonsten viel auf unseren Betten und
haben uns ausgeruht. Das Hotel, in dem wir verweilten, war ein klassisches All-Inclusive-Hotel und
man musste nicht einen Cent zusätzlich ausgeben. Sehr freundliches Personal und gutes (wenn auch
sehr öliges) Essen wartete auf uns. Lisas Einzeltrainer hatte uns aber auch vorher noch den Tipp
gegeben, dass kein Schach und nur Ausruhen einen Tag vor Spielbeginn angesagt ist. Und zum
Glück hatte uns Landeskadertrainer Wolfgang Krüger vorher noch gesagt, dass wir beim Essen gut
aufpassen sollen, sonst ist so ein Turnier schneller vorbei als man schauen kann. Danke Wolfgang!

6.11.
Heute ist es soweit. Nach einer anstrengenden und lauten Eröffnungsfeier steht um 15 Uhr die erste
Partie gegen ein Mädchen aus Armenien an. Um es vorweg zu nehmen: Lisa hat verloren! Eine
brutal schmerzhafte Niederlage in der ersten Runde muss jetzt verarbeitet werden. Aber Sport ist
Sport! Jetzt beruhigen und weiter zum Kampf! Aus Solidaritätsgründen hab ich mit Lisa
Gummibärchen gefuttert. Aber leider ließ sich der Frust dadurch natürlich nicht beheben. Vielleicht
sollte ich noch ein kleines Handicap erwähnen, was zwar keine Ausrede für die Niederlage sein soll,
aber doch nicht unwichtig für Lisas körperliche Fitness ist. Aufgrund eines Rückenleidens muss sie
seit einem Jahr ca. 14-18 Stunden am Tag ein Korsett tragen, was sehr anstrengend für ihren Körper
und ihren Geist ist. Wir haben daher beschlossen, dass Lisa das Teil hier in der Türkei nur nachts
tragen braucht. Durch das Korsett wacht sie selten morgens erholt aus, was sich durchaus auch
negativ aufs Schachspielen auswirken kann. Zu Hause fährt sie regelmäßig Fahrrad und reitet zum
Ausgleich. Das fiel hier leider weitestgehend weg und wir waren mit langen Spaziergängen und viel
Treppenlaufen dabei, was ihr auf jeden Fall sehr gut getan hat.
7.11.
Noch ein wenig enttäuscht von der gestrigen Niederlage, ging es heute morgen zur
Partievorbereitung mit Hendrik Hoffman, einem der mitgereisten Trainer. Von der türkischen
Gegnerin gab es nur wenig Partien im Internet zu finden, so dass die Vorbereitung sehr allgemein
ausgefallen ist. Der Trainer hat Lisa auf verschiedene Eröffnungsvarianten getestet und dann wurde
die Partie von gestern noch nachbereitet und sie bekam Mut machende Worte mit auf den Weg.
Vorm Mittagessen haben wir uns noch bewegt, um uns dann wieder dem kalorienreichen und öligen
Essen zu widmen, das wir bislang übrigens gut verkraftet haben. Nachmittags gabs dann die zweite
Partie des Turniers und Lisa konnte diesmal recht sicher gewinnen und war hocherfreut über ihren
ersten Punkt. Der Abend war dann ganz entspannt und sie konnte sich mit ihrem Heimtrainer per
Skype schon auf die nächste Runde vorbereiten.

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8.11.
Lisa hat sich entschlossen, auf ihrem Zimmer zu frühstücken, was bei den vielen Menschen im
Speisesaal verständlich ist. Ich bin also alleine los und hab ihr dann einfach was mitgebracht. Später
am Vormittag gings dann wieder zur Vorbereitung auf die nächste Partie und Lisa hat mit Hendrik
viele mögliche Eröffnungsvarianten getestet, was immer ein sehr gutes Training mit dem Faktor
"Unerwartetes" ist. Für die Gegner ist es übrigens viel leichter, sich auf Lisa vorzubereiten, weil
generell in Deutschland viele Partien im Internet veröffentlicht werden - im Gegensatz zu vielen
anderen Ländern. Die Gegnerin kam auch diesmal wieder aus der Türkei und Lisa konnte sie mit
einer feinen strategischen Leistung überspielen und den vollen Punkt einfahren. Danach gings
voller Freude über den Sieg zum Abendessen und so langsam wird immer klarer, welches Essen für
unsere deutschen Mägen verträglich ist und welches nicht. Ich muss anmerken, dass Lisa das
schneller herausbekommen hat, als ich :-). Später am Abend liefen dann noch die ersten
Vorbereitungen für die nächste Partie und dann wie immer um 23 Uhr müde und erschöpft ins Bett.
9.11.
Beim Studium der Partien der Gegnerinnen wird immer klarer, dass zwei Jahre Corona ihre Spuren
hinterlassen haben. Die meisten sind viel stärker als es ihre aktuelle Wertungszahl (Elo) aussagt und
somit sind Prognosen fast unmöglich. Die Polin, gegen die Lisa heute antritt, ist so ein Beispiel. In
der ersten Runde konnte sie die Startranglistenerste an den Rand einer Niederlage bringen und auch
gegen Lisa hatte sie schnell einen großen Vorteil und stand mehr oder weniger auf Gewinn. Aber
auch hier traf die Schachweisheit "Der letzte Fehler verliert" zu und Lisa hatte es geschafft, sich
zurückzukämpfen und Fehler zu provozieren, die das polnische Mädchen dann auch gemacht hat
und am Ende des Tages standen 3 Punkte aus vier Partien zu Buche. Hervorragend! Morgen gehts
dann zum dritten Mal gegen die Türkei. Schnell noch einen kurzen Abendspaziergang in angenehm
milden Temperaturen gemacht und dabei ein wenig Touristen-Entertainment auf hohem Niveau
genossen. Und schon war auch der fünfte Tag in der Türkei vorbei. Die Zeit vergeht wie im Fluge
und spielt sich ausschließlich auf der Hotelanlage ab. Für Aktivitäten außerhalb fehlte einfach die
Zeit und die Energie.

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10.11.
Je mehr man gewinnt, umso stärker werden die Gegner. Lisa wurde mit einer Eröffnung von der
Türkin überrascht, von der sie nur rudimentär Ahnung hat und mit der sie nicht gerechnet hatte.
Nach zwei Stunden sah aber alles ziemlich nach Unentschieden aus. Und jetzt kam Lisas
eigentliche Stärke zum Vorschein: Druck machen und Fehler provozieren, wo man eigentlich keine
Fehler mehr machen kann und siehe da, wieder "Der letzte Fehler verliert" und Lisa kam grinsend
zurück ins Hotelzimmer. Abends stand dann nur Ausruhen, Fernsehen und vor allem kein Schach
mehr an.
11.11.
Leider hatte ich gestern Abend schon das Gefühl, am Rande einer Erkältung zu stehen. Auch Lisa
verzeichnete wieder ein leichtes Halskratzen. Sie meinte, auch im Spielsaal würde gefühlt jeder
dritte vor sich hin husten. Klimaanlagen, warme Tage und kühle Nächte tragen natürlich auch zu
einer möglichen Erkältung bei. So verzichteten wir heute morgen aufs Frühstück, ruhten uns gut aus
und tranken unseren mitgebrachten Tee nebst den leckeren Mandarinen, die es hier überall gibt.
Später am Vormittag ist Lisa dann zu ihrem Trainer zur Partievorbereitung gegangen, denn es
wartete ein schwerer Brocken auf sie. Eine starke Spielerin aus der Slovakei stand auf dem
Programm und es mussten Strategien entwickelt werden, wie man die wohl knacken kann. Die
Slovakin hat Lisa dann in der Eröffnung sehr überrascht (wieder mal), aber sie konnte in ein etwa
ausgeglichenes Mittelspiel übergehen und hat dann wirklich sehr schön Schritt für Schritt ihre
Stellung verbessert und die Gegnerin konnte irgendwie nichts dagegen tun und fand sich in einem
komplett verlorenen Turmendspiel wieder, was Lisa sicher gewann. Hurra! Fünf Siege in Folge ist
schon ein starke Leistung und mittlerweile steht Platz 4 zu Buche und morgen steht dann die
führende Russin an Brett 1 auf dem Speiseplan. Echt spannendes Turnier!

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12.11.
Nach einer mittelmäßigen und für Lisa erschöpfenden Nacht mit vielen Wachphasen, haben wir uns
heute morgen im Hotelshop nach diversen Keks- und Schokoladenmöglichkeiten umgeschaut. Die
Auswahl war mau und die Preise etwa dreimal so hoch wie in Deutschland. Selbst einfachste
Hygieneartikel waren irre teuer. Zum Glück konnten wir bisher von unserem großen mitgebrachten
Süßigkeitenvorrat zehren, der aber leider nun aufgebraucht ist. Und an die Süßigkeiten am Buffet
trauten wir uns nicht ran. Die sahen einfach zu sehr nach Magenverstimmung aus. Das wollten wir
natürlich hier nicht riskieren und ich muss wirklich sagen, dass Lisa sehr auf ihr Essen geachtet hat,
um fit zu bleiben. Bei den ganzen kulinarischen Verführungen hier gar nicht so einfach. Die
Vorbereitung auf die Gegnerin begann schon wie üblich gestern abend per Skype mit ihrem
ukrainischen Trainer und wurde heute morgen mit Hendrik Hoffmann direkt mit Brett und echten
Schachfiguren verfeinert. Inklusive Partie stehen pro Tag ca. 6 Stunden Schach an, was schlaucht
und viel Erholung benötigte, was Lisa auch ausgiebig - vorwiegend im Hotelzimmer und bei
gemeinsamen Spaziergängen mit mir - tat. Ich muss sie wirklich für ihr Selbstmanagement loben.
Zur Partie: Die mittelmäßige Nacht und der mittlerweile leicht kränkliche Zustand von Lisa haben
sich ausgewirkt. Trotz guter Vorbereitung war das Spiel im Prinzip schon nach ein paar Zügen
vorbei, weil sie leider alles durcheinandergebracht hatte, was vorher besprochen wurde und die
Niederlage war schnell besiegelt, was sehr sehr schmerzhaft für sie war. Jetzt war beruhigen
angesagt! Wenn man nach sechs Runden mit 5 aus 6 dasteht und 5 Partien in Folge gewonnen hat,
machen sich plötzlich höhere Ambitionen als nur Top 10 bemerkbar und nun wieder auf den Boden
der Tatsachen geholt, tut sehr weh!
13.11.
Heute morgen ist Lisa mit Fieber aufgewacht und hat sich mehr recht als schlecht durch den
Vormittag geschleppt. Aber irgendwie hat sie es mit viel Ruhe, leichtem Essen und viel Trinken plus
einer Paracetamol vor der Partie noch geschafft, zum Spiel anzutreten. Aber was soll ich sagen: Am
Anfang noch ok alles, und dann kamen die ersten Fehler und Lisa hat teilweise mit geschlossenen
Augen am Brett gesessen. Da war zwar heute wieder nix zu holen, aber die Partie abzusagen war
keine Option für sie. Am Abend ging es ihr dann deutlich besser und das Turnier nähert sich dem
Ende. Vielleicht morgen noch einen Punkt holen, dann hätte sie mit 6 aus 9 eine gute EM gespielt.
Wir warten ab.

14.11.
Heute erschöpft, aber fieberfrei aufgewacht, stand um 9 Uhr per Skype die Partievorbereitung an.
Um 10 Uhr ging dann das Spiel los und mit letzten Kräften und ein paar suboptimalen Zügen der
Gegnerin stand Lisa dann zwei Stunden später mit 6 Punkten aus 9 Partien und dem 10. Platz in der
Gesamtwertung von ca. 85 Spielerinnen super da. Ihr Minimalziel Top 10 war erreicht und Lisa war
gut zufrieden damit und das Turnier ist friedlich zu Ende gegangen. Wir genossen noch den Tag und
das leckere Essen und bereiteten uns so langsam auf die Abfahrt zum Flughafen morgen früh vor.
15.11.
Abreisetag! Pünktlich am Flughafen angekommen, stand noch das stressige Einchecken an
(knallharte, willkürliche Security) und dann haben wir uns noch sehr gut mit einer anderen Familie,
die ähnliche Abflugzeiten hatte, unterhalten. Für mich war das während der EM das interessanteste
Gespräch über das Thema Leistungsschach in Deutschland und die Zeit zum Abflug ist wie im
Fluge vergangen. Am frühen Abend waren wir wieder zurück in Hamburg und ich musste zum
ersten Mal seit 10 Tagen wieder eine Jacke anziehen. Brrrrrrr ...

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So, das war unser Trip in die Türkei. Ich hoffe, ich konnte einen kleinen Eindruck vermitteln, wie es
so war. In den nächsten Tagen heißt es, erstmal wieder in den Alltag kommen und alles verarbeiten.
Ich denke mal, Lisa wird in den nächsten Monaten einen großen Lernprozess vollziehen und mit
ihrem Trainer die richtigen Schlüsse aus dem Turnier ziehen können. Die Motivation aufs nächste
große Turnier ist jedenfalls riesig: Das Ziel für sie ist es, sich für die Weltmeisterschaft in Italien
2023 zu qualifizieren! Na, denn man tau (wie es in Norddeutsch so schön heißt)!